PROGRAMM
FREITAG 17.06.2005
FOTOS
19:00 UHR
GRILLIEREN VON MERGUESSE
20:30 UHR
HERAUSGEBER UND VERLEGER MARTIN SCHMITZ BESCHAEFTIGT SICH IN SEINEM VORTRAG MIT LEBEN UND WERK VON LUCIUS BURCKHARDT.
Von der Urbanismuskritik zur Spaziergangswissenschaft

Heute Abend gibt es ein Fest und ihr bekommt alle euer Diplom. Morgen fangen wir dann an zu studieren. Mit diesen Worten begrüßte uns Lucius Burckhardt zu Beginn des Studiums im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung in Kassel. Das war 1976. Seit drei Jahren lehrte er bereits als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme in einem reformierten Studiengang, der erstmals alle planenden Berufe unter einem Dach versammelte.
Lucius Burckhardt war ein Lehrer, der in einer Richtung forschte, die die Stadtplanung revolutionierte: Er war ein Vordenker der Urbanismuskritik. Erst später gab er seinem Fachgebiet einen Namen: Spaziergangswissenschaft, auch Promenadologie oder, wie er sie ins Englische übersetzte: Strollology.
Zu Beginn meines Studiums hatte Lucius Burckhardt bereits 30 Jahre geforscht. In den 1940er Jahren, nach einer kurzen Zeit als Medizinstudent, wechselte er in das Fach Nationalökonomie an der Basler Universität. Was er damals in seiner Heimatstadt in Form des "Grossbaslers Korrektionsplans" beobachtete, wertete er als zerstörerisch und unzureichend.
Zu dieser Zeit beschäftigte sich der Städtebau noch mit idealen Plätzen und Straßen, dem Neubau von Wohnsiedlungen und repräsentativen Gebäuden. Doch ein ganz anderes Problem wälzte sich bedrohlich auf die Städte zu: Die Automobilisierung der Gesellschaft.
Wissenschaft, Planung und Politik waren völlig unvorbereitet, als der Individualverkehr die Städte erreichte und nach baulichen Eingriffen in die bestehende Substanz verlangte. Hier beginnt die Forschung von Lucius Burckhardt. Seine Zeitungsartikel, Vorträge und Bücher lehrten bereits in den 1950er Jahren vom Planen und Bauen in der Demokratie.
Noch hilfloser als die Städte und Gemeinden waren die Bewohner, deren Häuser der neuen Erschließung städtischer Quartiere und einem autogerechten Umbau weichen mußten.
Lucius Burckhardt stellte fest, daß schon wichtige politische Vorfragen von den Verantwortlichen nicht als solche erkannt werden. Man dachte nicht an die Gesamtheit einer Stadt, sondern grenzte viele Bereiche aus, um das neue Verkehrsproblem mit Straßen und Brücken zu lösen. Das Auto ist nie ganz zu Ende erfunden worden, sagte er. Nachdem der Otto-Motor endlich lief, tauchten die nächsten Probleme auf: Die Luftverschmutzung, der Verkehrsstau, der Parkplatzbedarf und die Verödung der Innenstädte.
Als durch die Studentenbewegung von 1968 die Gesellschafts- und Planungskritik in das Bewußtsein der Öffentlichkeit rückte, hatte er bereits vieles formuliert. Früh war er gegen den Strom geschwommen und stieß bei seinen Kollegen auf Unverständnis.
Lucius Burckhardt besaß das Talent einer außerordentlich scharfen Beobachtungsgabe und einen ganzheitlichen Blick. Er obduzierte die Pläne der Architekten und Stadtplaner, analysierte die Politik mit ihren vollmundigen Versprechen und sah, wie sich die Menschen später damit herumplagen mußten. Er konnte solche Zusammenhänge nicht nur schriftlich, sondern auch in Karikaturen, Aquarellen und Kunstaktionen darstellen. In der Kulturgeschichte spricht man vom Universalgelehrten oder genialen Dilettanten.
1955 verläßt Lucius Burckhardt promoviert zum Dr. phil. und frisch verheiratet mit seiner Frau Annemarie die Stadt Basel. Sie arbeitete von nun an mit ihm zusammen und war später täglich in der Hochschule präsent. In Dortmund trat er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster an. Soziologie, eine noch junge Wissenschaft wurde hier nicht am Schreibtisch, sondern vor Ort praktiziert. Die Feldforschung führte in die Wohnungen des Ruhrgebiets. Wie wohnen die Leute und wie möchten sie einmal wohnen? Es galt Kriterien zu finden, die der Planung von Wohnsiedlungen und Stadtteilen an die Hand gegeben werden können.
Umgeben von Tütenlampen und Nierentischen reifte hier eine berühmte Burckhardt´sche Formel: Design ist unsichtbar. Das beste Design einer Straßenbahn wäre, wenn sie auch nachts fährt! Wir sind nicht nur von sichtbaren Gegenständen umgeben, sondern müssen den unsichtbaren Bereich, die soziale Dimension mitgestalten.
Durch die verschiedenen Stationen und beruflichen Positionen setzten sich Forschung und Lehre von Lucius Burckhardt wie ein Mosaik zusammen. Aufenthalte an der Hochschule für Gestaltung in Ulm und an der ETH Zürich zeigten früh seine besondere Pädagogik. Der Umgang mit den Studenten ist freundschaftlich und hilfsbereit. Den Lehrstuhl in der Schweiz verwandelte er in ein Lehrcanapé. In Kassel gab es keine Sprechstunde oder anderen akademischen Klimbim: man verabredete sich an seinem Schreibtisch oder besuchte die Burckhardts während der Sommersemesterferien in der Nähe von Basel. Mit seinem unvergeßlichen Humor erzählte er dann die Geschichte von einer Gruppe Berliner Urbanisten, die mitten in einem Stadtquartier von Kairo zwischen Kesselflickern, Teeverkäufern und lautem Stimmengewirr geforscht hatte und in ihrem Schlußbericht zu der absurden Erkenntnis gekommen war, daß hier das Gewerbe ausgesiedelt und ein Kommunikationszentrum gebaut werden müsse.
Bevor er nach Kassel ging, war er neben der Lehrtätigkeit zehn Jahre Chefredakteur der Zeitschrift "Werk". Die veröffentlichte nun in den 1960er Jahren auf ihren Seiten die neue Generation von Architekten und Planern, die auf das einsetzende Umdenken und die Urbanismuskritik reagierten. Die Berichte waren engagiert, frisch und unkompliziert. Lucius Burckhardt formulierte historische und zeitgenössische Themen in einfachen und präzisen Worten. Akademische und theoretische Zusammenhänge übersetzte er stets in seine eigene Sprache.
Mit dem Vorsitz im Deutschen Werkbund begann 1977 eine interessante Folge von Tagungen und Veröffentlichungen. Mit "Die Nacht" und "Der Schmutz" wurden Themen ausgelotet, die auf den ersten Blick scheinbar nichts mit Architektur und Städtebau zu tun haben. Die Nacht ist menschgemacht und kein reines Naturphänomen mehr. Sie beginnt mit dem ausgedünnten Fahrplan der Busse und Bahnen, und die leeren Strassen der unbewohnten Innenstädte werden für Passanten zur Gefahr. Die Erkenntnis zum Thema Schmutz: Ein großer Teil der Umweltverschmutzung besteht aus unseren chemischen Reinigungsmitteln, die wir mit dem Schmutzwasser in die Kanalisation gießen. Der Kampf um die Hygiene mündet in einen gefährlichen Teufelskreis. Während wir die Oberflächen scheuern und polieren, läßt sich die Verunreinigung des Kühlwassers eines Atomreaktors allenfalls mit dem Geigerzähler messen.
Nach den großen historischen Auseinandersetzungen zur Gründungszeit des Deutschen Werkbundes Anfang des 20. Jahrhunderts über Massenproduktion versus Handwerk hielt nun die Ökologie Einzug und der Werkbund befand sich thematisch auf der Höhe der Zeit.
Seine Kritiker warfen Lucius Burckhardt immer wieder vor, daß er keine Pläne vorzeige oder Handlungsanweisungen gäbe, mit denen man sofort planen und bauen kann. Seine Studenten erlernten die Gleichwertigkeit von Bauen und Bauen verhindern, die Verantwortung, die ein Planer für die Folgen seiner Eingriffe trägt, und die historische und zeitgenössische Interpretation der eigenen Umwelt. Die Themen lauteten "Denkmalpflege ist Sozialpolitik" oder "Der minimale Eingriff".
Die Bundesgartenschau in Kassel wurde 1981 zu einem weiteren Gegenstand heftigster Kritik. Die Gärtner bedampften die Karls-Aue unter großen Plastikbahnen mit einem hochwirksamen Gift, das bis in eine Tiefe von 30 cm in das Erdreich vordrang. Der Boden sollte für die Blumenpracht jungfräulich aufbereitet werden. Noch Jahre später stand die ehemalige Liegewiese vor der Orangerie regelmäßig unter Wasser. Das schwere Gerät der Pflanzer hatte die 200 Jahre alte Drainage aus Schilfrohr in filigranen Erdkanälen plattgedrückt. In der Kasseler Werkbundgruppe entstand die Publikation "Durch Pflege zerstört".
Erst 1985 erschien ein umfassendes, längst vergriffenes Werk von Lucius Burckhardt mit seinen Aquarellen, Karikaturen und Texten: "Die Kinder fressen ihre Revolution". Er hatte bereits gemerkt, daß sich die 68er Generation einrichtete und mittlerweile nicht nur ein, sondern zwei Autos vor der grasgedeckten Garage stehen hatte. Lucius Burckhardt hingegen tauchte auf einem Trümmergrundstück neben einem besetzten Haus in Kreuzberg auf. Während seines Vortrags über Landschaftsplanung warf Annemarie Burckhardt mit einem Diaprojektor Bilder an die Brandmauer, mißtrauisch beobachtet von vorbeifahrenden Polizisten. Eingeladen hatte Wolfgang Müller, Kopf der Künstlergruppe "Die Tödliche Doris" im Rahmen seiner Galerie Eisenbahnstrasse. Punk hatte die Hippies abgelöst.
Die gesamte Burckhardt´sche Forschung setzte sich schließlich in den 1980er Jahren zur Spaziergangswissenschaft zusammen. Wiederum sehr früh entwickelte er eine Vorstellung von Architektur und Urbanismus, vom Planen und Bauen in der Zeit der Globalisierung. Strollology greift auf die ursprünglichste Form der Weltwahrnehmung zurück: das Spazierengehen. Wenn ich wieder zuhause bin, setzen sich die Bilder in meinem Kopf zu einem Gesamteindruck zusammen. Natürlich sehen wir nur das, was wir gelernt haben zu sehen. Aber welche Bilder entstehen, wenn wir uns auf unserem Weltspaziergang mit dem Auto oder Flugzeug bewegen? Die Integration leisten finnische Saunalandschaften hinter chinesischen Torbögen. An unseren Urlaubszielen werden die folkloristischen und romantischen Bilder gebaut: Zypern ist wie Bergsteigen auf Sylt und in den Alpen stehen Hotels, die wie aufgepumpte Bauernhäuser aussehen. Ein globaler Regionalismus entsteht. Die Spaziergangswissenschaft macht diese Zusammenhänge sichtbar und möchte unsere Wahrnehmung korrigieren.
Bis zu seinem Tod im August 2003 hat er seine kritische Position niemals aufgegeben und ständig weiter entwickelt und aktualisiert. Diese Forschung wird zwischen den ökonomischen Interessen, der Politik und dem Wohl einer Gesamtbevölkerung unentbehrlich sein, wann immer geplant, gebaut, gestaltet und gewohnt wird. Und wie geht es weiter?
Die Spaziergangswissenschaft, ein Nebenfach - wie er sie bescheiden und schmunzelnd nannte - sollte in der Hochschule gelehrt werden. Der Zeitpunkt ist günstig, da eine neue Generation beginnt, sich kritisch mit Architektur, Planung und Politik auseinanderzusetzen
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MARTIN SCHMITZ- LUCIUS BURCKHARDT
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